5.5.2020

Projekt NOTATION UND AUFFÜHRUNG

E-MAIL-WECHSEL

"Das Spannungsfeld von Werk und Aufführung"

Mit Rita Thiele


Rosa Eidelpes hat mit Rita Thiele einen E-Mail-Wechsel zur Frage des Verhältnisses von Aufführung und Notation geführt. Dabei loten sie aus, ob moderne, offene Werkformen – u. a. Elfriede Jelineks rezenteres Oeuvre – erst auf der Bühne im theatralischen Raum ihre ganze Mannigfaltigkeit ausbreiten können und ob nicht erst die Verwirklichung eine zentrale Kategorie des modernen Werkbegriffs sein muss, da erst dieser die Performativität der Schauspielenden, Bühnenbild, Licht und das Publikum einschließt – so steht und bleibt die Frage im Raum, ob ein theatrales Werk jemals abgeschlossen sein kann.


Rosa Eidelpes (Interuniversitärer Forschungsverbund Elfriede Jelinek): Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Werk und Aufführung beschreiben? Elfriede Jelinek schreibt in ihrem Essay Die Leere öffnen (für, über Jossi Wieler): "Das, was ich vage gemeint habe (und meist nicht einmal sprechenden Personen zugeordnet habe!), fließt quellenhaft in die Realität, die der Regisseur auf der Bühne schafft, ein, nicht als eine Ergänzung eines Textes, sondern als dessen Wirklichkeit. Meine Möglichkeitsform wird in die Wirklichkeit des Regisseurs gegossen, nicht ein Inhalt in eine Form, sondern eine Form von Sein (Wasser, Quelle!) in eine andre (Fassung! Abfluß!)." Ist ein Werk also erst im Moment der Aufführung vollständig?

Rita Thiele: Texte, die explizit für das Theater geschrieben werden, sind tatsächlich ohne Aufführung unvollständig. Es sind Partituren, gerichtet an interpretierende Künstler*innen: dazu zählen nicht nur die Regie, sondern das Spielerensemble, das Ausstattungsteam (Bühne und Kostüme) ggf. Musiker*Innen, Videoteam, Lightdesign, Dramaturgie usw. Der Reichtum dieser Texte besteht aber darin, dass sie sich an viele Interpret*innen richten, manchmal gelingt Rezeption sogar über Generationen hinweg. In diesem Sinne sind diese Werke nie vollständig, jedenfalls nicht vollständig abgeschlossen und die Kraft eines Textes beweist sich oft gerade darin, möglichst viele unterschiedliche Aufführungen zu generieren. Theater ist eine kollektive Kunst und maßgebliche Dramatiker*Innen wie Elfriede Jelinek verstehen ihre Theaterarbeit auch so. Bemerkenswert bleibt, dass Jelinek gleichzeitig gegen eine Dramatisierung ihres weiteren Werkes (Prosa, Romane, Erzählungen) votiert, zumal die Einrichtung bzw. Überschreibung von Romanen, Drehbüchern usw. für das Theater allgemein mittlerweile sehr verbreitet ist. 

Rosa Eidelpes: Ist ein Kunstwerk denn überhaupt jemals abgeschlossen? Bei Jelinek lässt sich von einer „Abgeschlossenheit“ jedenfalls nicht mehr sprechen, selbst frühe Texte wie Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften (1979) werden manchmal später – in diesem Fall mehr als dreißig Jahre später – weitergeschrieben. In Bezug auf das Medium "Buch" äußert sich Jelinek dazu in ihrem Essay Gegen die Ordnung. Gegen die Bibliothek: "Die Kostbarkeit eines Buches ist für mich wert- weil nutzlos, ein Buch muß jederzeit einer Neubehandlung unterzogen, notfalls überschrieben werden können." Muss ein Werk also radikal offen für seine Neu- und Überschreibung bleiben?

Rita Thiele: Wie oben schon beschrieben, werden kraftvolle Werke über Generationen hinweg rezipiert (Jelinek selbst ist eine Meisterin in immer neuer Überschreibung antiker Texte.) Selbstverständlich gibt es viele Theatertexte, die nicht mehr aufgeführt werden, eventuell sind sie dann noch immer Gegenstand der Literaturwissenschaft, werden beschrieben, (neu) übersetzt und auf diese Weise weiter rezipiert. Erst im Archiv könnte ich mir Formen von „Fixierung“ vorstellen. 

Rosa Eidelpes: Gibt es in Bezug auf die bei Jelinek postulierte Unabschließbarkeit des Werks vergleichbare Tendenzen bei anderen Künstler*innen und Kunstformen?

Rita Thiele: Zur Zeit arbeite ich an einer Uraufführung von Rainald Goetz (Im Reich des Todes. Politische Theorie), der sich – ganz ähnlich wie Elfriede Jelinek – "nur" als Koproduzent einer Theateraufführung begreift. Vor allem in Abfall für alle gibt es zu diesem Thema absolut erhellende Notizen von ihm, grundsätzlich inspiriert durch die Systemtheorie von Niklas Luhmann. Ansonsten, was die Frage nach dem Verhältnis von Werk und Aufführung anbelangt: alle darstellenden und immersiven Künste sind ohne Publikum unvollständig.

Rosa Eidelpes: Sind Notationen bzw. Textmaterial medial „fixierbar“? Gerade in der Werküberlieferung bei Jelinek ist vieles bedingt durch diese flüchtige mediale Erscheinungsform schwer greifbar und bedarf – um nicht verlorenzugehen – der permanenten Dokumentation und Archivierung. In ihrem Essay Keine Anweisung, keine Barauszahlung, kein Betrag, kein Betrug schreibt Jelinek im Zusammenhang mit dem digital veröffentlichten Fortsetzungsroman Neid, dass sie sich entgegen der Macht des Buchmarkts: "[...] für die Flüchtigkeit entschieden [hat], was meinen Text betrifft. Ich bleibe immer da, schicke meine Sachen jedoch auf Wunsch überall herum, in, ja, in all ihrer Flüchtigkeit (vielleicht Flüchtigkeit, gerade weil ich selbst nicht fliehen kann?)." Muss das Werk also auch medial flüchtig bzw. in Bewegung bleiben?

Rita Thiele: Also ich fände es angebracht, Neid ausschließlich digital zu archivieren. Schließlich ist dies das Medium, das die Autorin selbst für diesen Text gewählt hat (Alle Argumente sind in dem oben zitierten Essay zu finden).  Darüber hinaus kann man Neid auch als Hörspiel archivieren, die bayerische Produktion wurde ja auf Vorschlag der Autorin selbst aufgenommen. Zumindest spontan fände ich es fraglich, diesen Roman ausgedruckt zu archivieren, das ist zumindest nicht die Notationsform, die die Autorin sich wünscht.

Rosa Eidelpes: Gibt es auch Notationsformen (Texte), die gegenüber der Interpretation bzw. Aufführung Widerstände erzeugen? Wann und auf welche Weise wehrt sich die Notation gegen die Interpretation bzw. sperrt sich ganz dagegen? Gibt es einen „Mehrwert“ oder „Überschuss“, der in der Notation aufgespeichert ist und sich dem realisierten Werk bzw. der Aufführung entzieht? Hat die Notation gegenüber dem Werk also ein uneingelöstes, „utopisches Potential“?

Rita Thiele: Künstler*innen können sicherlich „Bedeutungen“ in ihren Werken notieren, die von Rezipienten nicht erfasst werden. Oder erst sehr viel später in der Geschichte verstanden werden (das kann man vielleicht „utopisches Potential“ nennen). Um nicht völlig verloren zu gehen, müsste der Theaterkünstler aber zumindest eine Art „Avantgarde Nische“ finden, in der diese Bedeutungen zwar nicht umfassend, womöglich sogar fälschlich interpretiert, aber zumindest erhalten bleiben. Eine wichtige Frage beim Theater bleibt: Was ist ein Stück ohne Publikum? Womit wir wieder bei der ersten Frage – nach dem Verhältnis von Werk und Aufführung – angelangt wären.


Rita Thiele ist Chefdramaturgin und stellvertretende Intendantin am Deutschen SchauSpielHaus Hamburg. Nach ihrem Studium der Geschichte, Germanistik und Theaterwissenschaft in Köln arbeitet sie ab 1984 am LTT Tübingen und am Schauspielhaus Kiel. Ab 1990 ist sie Dramaturgin und Mitglied der Direktion Claus Peymanns am Burgtheater Wien, 1999 wechselt sie in derselben Funktion an das Berliner Ensemble. Von 2001 bis 2006 ist sie Chefdramaturgin und stellvertretende Intendantin am Düsseldorfer Schauspielhaus, ab 2007 am Schauspiel Köln.